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07.08.2023

Entscheidung der EU-Kommission zu neuen genomischen Techniken: Startschuss für ein zeitgemäßes Gentechnikrecht?

Foto: Concept Photography Berlin


Gastbeitrag von Dr. Momme Matthiesen, Geschäftsführer OVID Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland für den Grain Club.

Seit dem Urteil des EuGH zu den neuen genomischen Techniken (NGT) in 2018 haben sich Verbände der deutschen Agrar-, Gartenbau- und Ernährungswirtschaft – von den Erzeugern über die Pflanzenzüchter bis hin zur Verarbeitung – für die Anwendungsmöglichkeiten von NGT stark gemacht. Nun hat die EU-Kommission einen Gesetzesentwurf vorgestellt, der vorsieht, dass NGT-Pflanzen zum Teil wie konventionell gezüchtete Pflanzen behandelt werden. Wir begrüßen diesen Vorschlag. Er basiert auf wissenschaftlicher Grundlage. Darum ist auch die lautstarke pauschale Kritik der Gentechnik-Gegner an der EU-Kommission nicht nachvollziehbar. Mancher Kritiker stellt sogar die Legitimität und die Unabhängigkeit der EU-Kommission infrage. Mit einer sachlichen Argumentation hat das nichts mehr zu tun. Um was geht es?

Von den NGT-Kritikern wird gerne die Rückverfolgbarkeit, Trennung von Warenströmen (sogenannte Segregation) und die Entwicklung von Methoden zur rechtssicheren Identifizierung der Mutationsursache bei NGT-Produkten gefordert. Auch die Lieferung des Referenzmaterials wie bei klassischer Gentechnik wird verlangt. Solche Forderungen zeigen, dass Deutschland und die EU hier leider noch ziemlich weit hinter der Praxis vieler Staaten hinterherhinken. Viele Länder sind, den wissenschaftlichen Empfehlungen folgend, längst dazu übergegangen, NGT-Pflanzen, die sich von konventionellen Züchtungen nicht unterscheiden, nicht mehr als GVO zu regulieren und zu kennzeichnen. Insbesondere im Commodityhandel mit Massenschüttgütern stehen wir angesichts dieser Entwicklung vor der Herausforderung, dass wir bei Importware gar nicht rechtssicher sagen können, ob z.B. eine GVO-freie Lieferung aus Kanada oder Brasilien NGT-Produkte enthält. Man kann bei der klassischen Gentechnik mit einem Marker rechtssicher arbeiten. Bei den NGT geht das nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht. Niemand hat etwas dagegen, dass man weiterhin versucht, Nachweismethoden zu entwickeln. Allerdings arbeiten bereits seit mehreren Jahren alle relevanten Akteure daran. Wir sollten daher endlich auf das Endprodukt, seinen Nutzen und seine Sicherheit schauen, statt neue Möglichkeiten der Identifizierung und Regulierung ins Zentrum zu stellen.

Früher oder später werden wir NGT-Anwendungen in Europa sehen, weltweit ist diese Technologie auf dem Vormarsch. Das können wir nur begrüßen, denn der deutsche Agrarsektor braucht moderne und sichere Instrumente im Bereich der Züchtung, um den Klimawandel zu bewältigen und die Ernährung zu sichern. Wir brauchen aber Rechtssicherheit im internationalen Agrarhandel. 

Wir haben in den letzten Jahren infolge von Krisen erlebt, wie fragil Warenströme sind und wie schnell es zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung kommen kann. Wir haben gesehen, wie abhängig wir davon sind, dass wir Rohstoffe weltweit beziehen. Darum müssen wir uns der Realität stellen und dafür sorgen, dass Europa sich mit seinen Auflagen und seinem veralteten Gentechnikrecht nicht von den weltweiten Marktbedingungen für NGT-Pflanzen entkoppelt. Es muss eine Basis geschaffen werden, wie die neuen Technologien auch hierzulande angewendet werden können. 

Unsere Botschaft an alle, die mehr Transparenz zum Wohle der Verbraucher fordern und diese bei dem Kommissionsvorschlag vermissen: Transparenz bedeutet nicht nur Kennzeichnung. Transparenz ist auch unmissverständliche Kommunikation und Aufklärung über solche relevanten Begriffe wie klassische Mutagenese, NGT oder GVO – auch über deren Chancen und Risiken, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Und das ist etwas, worüber wir viel mehr öffentlich sprechen müssen. Wenn man die Verbraucher auf der Straße fragt, ob sie Lebensmittel auf ihren Tellern haben möchten, deren genetisches Material mittels radioaktiver Strahlung oder Chemikalien – also mithilfe der klassischen Mutagenese – manipuliert wurde,  dann werden die meisten das ablehnen. Gleichzeitig konsumieren wir alle solche Produkte bereits seit langem. Obwohl sie laut EuGH eindeutig gentechnisch verändert wurden, müssen solche durch Mutagenese entstandenen Produkte nach geltender Rechtslage nicht als GVOs gekennzeichnet werden. Sie dürfen sogar als “Ohne Gentechnik” positiv gekennzeichnet werden, und zwar, weil diese Gentechnik seit langem als sicher gilt. Die meisten Verbraucher sind über solche Feinheiten allerdings nicht informiert. Ich appelliere deshalb dafür, dass wir in dieser Diskussion auf moderne wissenschaftliche Erkenntnisse bauen und diese den Verbrauchern öffentlich noch zugänglicher machen.

Oft wird als Argument gegen die Anwendung von NGT das Vorsorgeprinzip genannt und auf die nötige Risikoabschätzung gepocht. Ein guter Punkt! Jede differenzierte Entscheidung über die Anwendung von modernen Technologien muss eine wissenschaftsbasierte Abwägung zwischen Chancen und Risiken beinhalten. Wie steht es damit bei NGT? Es gibt sehr klare Aussagen von einer Reihe unabhängiger wissenschaftlicher Institutionen, wie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, dass die NGT sicher sind. Es gibt sehr viele offizielle Untersuchungen, darunter von der EFSA, die alle zu dem Ergebnis kommen, dass keine negativen Auswirkungen zu erkennen sind. Zu versuchen, alte Begrifflichkeiten und Argumente aus der Diskussion über die klassische Gentechnik auf NGT anzuwenden, ist eine absichtliche Verbrauchertäuschung. Deshalb müssen sich die Kritiker fragen, ob sie diese Scheinargumente weiterhin bemühen wollen. Wir müssen von der Technologie her schauen. Es ist ein Werkzeug in einem großen Werkzeugkoffer, den wir brauchen. Es ist gut, dass nun die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag zeitgemäßen und evidenzbasierten Kriterien folgt.  

Wir glauben fest daran, dass für die Entscheidungen der Politik stets eine wissenschaftliche Grundlage maßgeblich sein muss. Diesen Appell möchten wir insbesondere an Grüne und SPD adressieren, die besonders kritisch gegenüber den NGT eingestellt sind – und das trotz einer eindeutigen wissenschaftlichen Faktenlage. Aber auch hier finden seit einigen Jahren partei- bzw. fraktionsinterne Diskussionen statt. So hat eine Gruppe aus prominenten Vertretern von Bündnis90/Die Grünen, darunter Anna Christmann, Viola von Cramon, Theresia Bauer, Hans-Josef Fell, Johannes Kopton, Sebastian Lakner oder Dorothea Kaufmann, mit einem vorurteilsfreien Debattenbeitrag Aufsehen erregt. Bereits im Juni 2020  veröffentlichten sie ein Positionspapier mit dem vielsagenden Titel “Neue Zeiten, neue Antworten: Gentechnikrecht zeitgemäß regulieren”. Es fordert von der grünen Partei einen evidenzbasierten Umgang mit neuen genomischen Techniken. Diesem Appell sollte gerade jetzt neuer Schwung gegeben werden -  wir schließen uns ausdrücklich an.  

In der aktuellen Debatte muss eine pragmatische Lösung in Bezug auf NGT gefunden werden, die den Ansprüchen der Verbraucher und zugleich den Anforderungen der Landwirtschaft und des Handels gerecht wird. 

                                                                                                                                        

Weiterführende Information: SWR Beitrag "Greenpeace und die grüne Gentechnik"